Dissertationspreis

Preisträgerin 2023

Katharina Seibert

Who cares? Negotiating Society and Gender at Spain’s Sickbeds during the 1930s and 1940s

„Bei Katharina Seiberts Dissertation handelt es sich um eine ausgesprochen spannende und sehr gut geschriebene Arbeit. Sie verbindet auf höchst gelungene Weise geschlechter- und alltagsgeschichtliche Ansätze mit Politikgeschichte und gibt darüber hinaus auch der Medizingeschichte neue praxeologische Impulse, indem doing medicine als doing gender und doing society verstanden wird.

Die Verfasserin beobachtet gleichsam das Herstellen einer neuen sozialen Ordnung (in the making) sowohl auf Seiten der Republikaner:innen als auch der Franco-Anhänger:innen. Für beide Seiten werden zum einen die Visionen für die Gesundheitsversorgung (und damit immer auch die jeweils avisierten Geschlechter- und Gesellschaftsordnungen), zum anderen aber auch die alltägliche medizinische und pflegerische Praxis für die ereignisreichen 1930er und 1940er Jahre dargelegt.

[…]

Um Kontinuitäten nicht aus dem Blick zu verlieren, geht die Arbeit […] bis ins späte 19. Jh. zurück und betrachtet den Spanischen Bürgerkrieg damit als Teil eines längeren Prozesses des nation-building. Auch wenn transnationale Perspektiven nur ab und an eingezogen werden, wird die Bedeutung internationaler Entwicklungen in der Medizin und auch bei internationalen Organisationen wie dem Roten Kreuz oder der League of Nations Health Organisation (LNHO) herausgearbeitet.

Bei der Quellenanalyse geht die Verfasserin in stets sehr behutsam vor und zeigt detailliert und auf vielen verschiedenen Ebenen auf, wie Geschlechterstereotype auf beiden Seiten der Auseinandersetzung tradiert wurden, aber auch, dass die republikanische Seite durchaus weitreichende Visionen für eine veränderte Geschlechterordnung entwickelte und sich hier auch ganz neue Handlungsspielräume für Frauen auftaten, und zwar im Gesundheitswesen wie im Kriegshandwerk.

Die Verfasserin zeigt dabei, wie sich das Berufsfeld der Krankenschwester, das zuvor gänzlich in Händen der Katholischen Kirche lag, säkularisierte; sie untersucht auch geschlechtsspezifische Kommunikationsstile (z.B. anhand von Briefwechseln) und unterschiedliche Coping-Strategien an einzelnen Biographien. Dabei ist sie sich stets der Bedeutungsoffenheit vieler der analysierten Entwicklungen bewusst, wägt genau ab und entwirft somit ein sehr nuanciertes, gleichwohl höchst überzeugendes Bild der untersuchten sozialen Ordnungsversuche.

Die 1940er Jahre versteht die Verfasserin als zweite Phase des Bürgerkriegs (1939-1948) und problematisiert damit überzeugend auch die Kategorien Krieg und Frieden. Die in der Forschung betonte Elastizität des Franco-Regimes arbeitet sie an einzelnen Beispielen – trotz maßloser und brutaler Repressionsmaßnahmen – minutiös heraus und zeichnet die „gendered pathways“ in eine franquistische Gesellschaft, soweit es die Quellen zulassen, genau nach.

Abschließend betont sie, dass damit die vielen „shades of grey“ (S. 393) der historischen Entwicklungen deutlich wurden – gerade auch, was die Täter-Opfer-Dichotomie angeht. Zudem werden Diskrepanzen zwischen Diskurs und Praxis eindrücklich sichtbar. Vor allem aber ist es der Verfasserin gelungen, das doing domination akteurszentriert und situativ heraus zu präparieren und dabei konsequent die Kategorie Geschlecht im Blick zu behalten.

Die Dissertation besticht durch ihre theoretische Informiertheit, die aber nicht zu langen Theoriekapiteln oder langen Exkursen mit abgehobenem Jargon führt, sondern dieses theoretische Wissen stets in die Reflektionen über Quellen und deren Interpretation mit einfließen lässt.  Gerade diesbezüglich ist die Studie sehr souverän verfasst.“

(aus der Begründung der Jury des AKHFG)