Dissertationspreis
Taufe, Ehe, Tod – Verzeichnungspraktiken in frühneuzeitlichen Kirchenbüchern aus süddeutschen Gemeinden
„Eva Marie Lehner hat in ihrer Dissertation 68 Kirchenbücher von Gemeinden unterschiedlicher Konfessionen aus dem 16. und 17. Jahrhundert ausgewertet. Sie verortet die Arbeit an der Schnittstelle einer anthropologisch ausgerichteten Verwaltungs- und Wissensgeschichte und versteht sie zugleich als Beitrag zur Historischen Intersektionalitätsforschung. Durch diese ungewöhnliche Verbindung baut sie ein Spannungsfeld auf, das ihr erlaubt, aus der spröde wirkenden Textsorte ‚Kirchenbuch‘ wichtige neue Erkenntnisse über ein vermeintlich gut erforschtes Forschungsthema, die Herausbildung der frühneuzeitlichen Geschlechterordnung, zu gewinnen. Es geht ihr nicht darum, einmal mehr herauszuarbeiten, dass die Ehe in der Frühen Neuzeit ein zentraler Ort gesellschaftlicher Ordnung war und dass die kirchliche Eheschließung und die Sanktionierung vor- und außerehelicher Sexualität Teil des frühneuzeitlichen Disziplinierungsprozesses waren. Vielmehr zeigt sie in einer praxeologischen Herangehensweise, wie das Verzeichnen personenbezogener Daten zu einer Bürokratisierung der Heirat beigetragen hat. In ihrer empirisch breit abgesicherten, methodisch reflektierten, innovativen Arbeit dezentriert sie konsequent die Kategorie Geschlecht und stellt sie in einen Zusammenhang mit einer ganzen Reihe von anderen personenbezogenen Kategorien (Religion, Konfession, sozialer Stand, Alter) und Machtverhältnissen. Auf diese Weise ist ein wichtiger Beitrag zur Herausbildung der Geschlechterordnung in ihrer intersektionalen Verflechtung entstanden, und zwar nicht nur wie sie als Disziplinierung von oben erfolgte, sondern auf dem Boden der dörflichen Gemeinden entstand.
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Auch in den Sterberegistern werden geschlechtergeschichtliche Unterschiede sichtbar, wenn etwa bei Frauen häufiger der Name und weitere Angaben fehlen, sie aber als arm eingestuft werden. Vor allem solche Beobachtungen sind es, die den Ausgangspunkt bilden für die Überlegungen zur Historisierung personenbezogener Kategorienbildung, wobei gerade für die Vormoderne Geschlecht nur eine von vielen Kategorien ist, die intersektional aufeinander bezogen werden müssen.“
(aus der Begründung der Jury des AKHFG)
Die Arbeit ist mittlerweile im Wallstein Verlag erschienen. Hier finden Sie die H-Soz-Kult Rezension.